G94 Beschreiben rotierende "Zeiger" Wellen im Anschauungsraum? |
Dieser Text richtet sich an Lehrer, nicht an Schüler.
In der klassischen Wellenlehre werden schon seit Generationen rotierende Zeiger zur Berechnung von Intensitäten bei der Interferenz eingesetzt. Seit einigen Jahren glaubt man nun, eine modellmäßige Beschreibung des Verhaltens von freien Mikroteilchen durch rotierende Zeiger gefunden zu haben, die die vermeintliche (und hier polemisch formulierte) Problematik "Sind Mikroteilchen manchmal Wellen?" umgeht, indem die Wellenfunktionen der Schrödinger-Theorie bis zur Unkenntlichkeit verfremdet werden.
Für die Wellenfunktionen von Einteilchen-Zuständen und für klassische Wellen ist diese mathematische Methode identisch anwendbar*) (bei "ungestörter Ausbreitung" und abgesehen davon, dass Wellenfunktionen komplexwertig sind; eben dieses Problem wird in beiden Fällen im letzten Schritt beseitigt, indem das Betragsquadrat gebildet wird), deshalb passen in beiden Fällen einfache Zeiger. Aber am Schluss, wenn die Summation über die verschiedenen Pfade durchgeführt und das Betragsquadrat gebildet ist, kommt dann in dem einen Fall der Kontakt mit der Quantenphysik zustande, indem das Ergebnis verbal nicht als Intensität, sondern als Wahrscheinlichkeitsdichte gedeutet wird.
Rotierende Zeiger sind m.E. eine Methode, um bei klassischen und nichtklassischen Wellen Phasen auf den jeweiligen Pfaden zu ermitteln, damit also auch Phasendifferenzen zwischen verschiedenen Pfaden in einem Überlagerungspunkt (bzw. Gangunterschiede), und Wellenamplituden dort phasengerecht zu überlagern, was dann geometrisch geschieht um ein Rechnen mit komplexen Zahlen zu vermeiden. Dann lassen sich bereits auf relativ elementarer Basis beeindruckende Ergebnisse für Wellenphänomene gewinnen, wie u.a. Bader mit seinen PC-Programmen gezeigt hat.
Es sieht so aus, als würden die Zeiger wie die klassischen Wellen auf Bahnen im Ortsraum laufen. Es sieht so aus als könne man in beiden Fällen von einer Ausbreitung vom Doppelspalt z.B. zum Nachweisort sprechen. Der Fachmann weiß allerdings, dass hier eigentlich von zwei verschiedenen dreidimensionalen Räumen die Rede ist, von einem Konfigurationsraum (an dessen Koordinaten x Orts-Messungen, oder an dessen Koordinaten p Impulsmessungen durchgeführt werden können - also möglich sind) und vom Anschauungsraum, in dem Erzeugung und Nachweis der Mikroteilchen stattfinden, aber von keiner "Ausbreitung" gesprochen werden kann (in dem Sinn, dass man die an einer Stelle der Interferenzfigur (!) nachgewiesenen Mikroteilchen nicht unterwegs verfolgen kann, weder experimentell noch rechnerisch). Weder die Wellen der Wellenfunktionen noch die "Zeiger" breiten sich in unserem Anschauungsraum aus. U.a. ist das ein Grund, weshalb Feynman, der die Pfadintegral-Methode für wissenschaftliche Zwecke ausgebaut hat, und auf den ihre Popularisierung zum Zeigerformalismus in der Quantenphysik zurückgeht, nicht von "Wegen", sondern von "Pfaden" (pathes) spricht.
Bereits bei Zweiteilchen-Zuständen (Quantenobjekte aus zwei Teilchen, ohne Messung mit fehlenden individuellen Eigenschaften) agieren die Wellenfunktionen in einem sechsdimensionalen Konfigurationsraum: Es geht um die Wahrscheinlichkeit, an einem Ort x1 die Position des einen Teilchens zu messen, am Ort x2 die des anderen Teilchens, oder jeweils eine andere Eigenschaft. Solche Zustände werden von den Anhängern des schulischen Zeigerformalismus selten untersucht. Rode jedoch (mit dem ich nicht in allen Punkten übereinstimme) hat damit die Interferenz von Biphotonen (siehe Zitat dort) mit den dabei beobachteten unerwarteten Erscheinungen für die Schule beschrieben. Im Zeigerformalismus muss man die Zeiger für jedes Teilchen auf unabhängigen Pfaden (aha: 3 Koordinaten für Messungen an dem einen Teilchen, 3 für Messungen am anderen!) rotieren lassen und erst am Schluss multiplizieren. So wird die 6-Dimensionalität des Konfigurationsraums "simuliert". Man könnte auch sagen, dass sich die zusammengesetzten Zeiger in einem 6-dimensionalen Raum "ausbreiten", was aber auch nicht gerade zu einer Veranschaulichung beiträgt.
Aber das ist der Punkt: Ich bin der Meinung, dass man die Quantenphysik nicht richtig verstehen kann, wenn man sich nicht mit mindestens Zweiteilchen-Zuständen beschäftigt hat. Oder mit Schrödinger: "Verschränkung ist das wesentliche Element der Quantenphysik" (zitiert nach Erb). Solange man nur Einteilchen-Zustände betrachtet, erkennt man schwer, dass die Wellenfunktionen nicht im Anschauungsraum agieren. Dann ist auch kein inhaltlicher Unterschied zwischen der Ausbreitung von Wellen im Anschauungsraum und der Ausbreitung von rotierenden Zeigern erkennbar. Ganz entsprechend könnte man erst mit mindestens "Zweiteilchen-Zeigern" (Zeigerprodukten) erkennen, dass sich diese nicht im Anschauungsraum ausbreiten, also auch nicht im Zusammenhang stehen mit sich im Anschauungsraum ausbreitenden Wellen. Zweiteilchen-Zustände lassen sich nicht auf klassische Wellen zurückführen. Wenn man bei Einteilchen-Zuständen noch von einem (klassischen) "Wellenmodell" sprechen könnte, ist dies bei Zweiteilchen-Zuständen auf keinen Fall möglich. Auf einen ähnlichen Punkt weist auch Feynman in seiner "QED - Die seltsame Theorie des Lichts" im zweiten Kapitel hin. Dieses Buch hat die Popularisierung der Zeiger als quantenphysikalische Methode ausgelöst. Feynman kritisiert dort die Neigung von Studenten, die Ausbreitung von Zeigern mit der Ausbreitung von (klassischen) Teilchen gleichzusetzen. Leider scheinen gerade das manche seiner Formulierungen in dem genannten Buch - wenigstens in der Übersetzung - zu suggerieren.
Ich fürchte allerdings, dass auch die mathematische Behandlung von Zweiteilchen-Zuständen mittels Zeigern den schulischen Rahmen überschreitet. Dafür scheint mir gerade die Rode'sche Betrachtung ein Beleg zu sein. Im Rahmen eines qualitativen Arguments scheinen mir aber Zweiteilchen-Wellenfunktionen bzw. entsprechende Zeiger für ein Verständnis der Quantenphysik unverzichtbar.
Eine offene Frage ist für mich ohnehin: Ist eine "Modellierung" der Wahrscheinlichkeitsamplituden mit Hilfe von Zeigern für ein Verständnis der Quantenphysik in der Schule ertragreicher als eine "Modellierung" durch Schrödinger'sche Wellenfunktionen, zwei Modelle, die ja in einem gewissen Maße äquivalent sind*)? Besteht der Gewinn für ein Verständnis der Quantenphysik nicht etwa nur darin, dass die Schüler in den Zeigern keine Wellen mehr erkennen können? Wird so der angebliche Welle-Teilchen-Konflikt entschärft? In beiden Fällen darf man nicht einfach blind ein Modell basteln, bis etwas erscheint, was so einigermaßen dem gewünschten Ergebnis ähnelt, sondern muss doch die üblichen Regeln der QM einhalten, also z.B. alle beitragenden Möglichkeiten berücksichtigen. U.a. das scheint mir bei Rode nicht vollständig gelungen zu sein. Einen Vorteil hat die Zeigermethode sicher: man braucht nicht über komplexe Zahlen reden. Aber im positiven Sinn anschaulicher ist sie m.E. nicht.
*) Die Feynman'sche Pfadintegralmethode ist allerdings viel allgemeiner und entspricht nicht unbedingt einer Wellentheorie.
R. Erb, Simulation verschränkter Photonen, PhyDid 2/8 (2009) S. 58-64; vgl. auch V25 Korrelierte Photonenpaare nach Aspect - ein EPR-Experiment
(zuletzt aktualisiert 2013)