Würzburger Quantenphysik-Konzept

V20a Der modifizierte Doppelspalt-Versuch: ein Quantenradierer mit "verzögerter Entscheidung"?

MZI als Quanten-Radierer MZI-verzögerte Entscheidung (Wheeler)

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Der Doppelspalt soll durch 2 aufgeklebte oder ähnlich angebrachte Polarisationsfolien modifiziert sein.



(1) Aufbau (Abb. 1) und Beobachtung (Abb. 2):

(a) Die Spalte eines Doppelspalts werden mit senkrecht zueinander orientierten Polarisationsfolien (blau) überklebt. Misst man die Polarisation der Photonen, die von Spalt A kommen, so erhält man stets ein anderes Ergebnis als bei Messung der Photonen aus Spalt B.

(b) Photonen mit unterschiedlichen Polarisationen können nicht interferieren. Es gibt auf dem Schirm nur ein Interferenzbild des Einfachspalts mit Minima und Maxima (Abb. 2, obere Zeile; eigentlich zwei leicht gegeneinander versetzte, die überlagert sind).

(c) Lässt man die Photonen vom Doppelspalt durch einen Analysator AN mit drehbarer Orientierung treten, so entsteht auf dem Schirm bei 450-Orientierung des Analysators wieder ein Doppelspalt-Interferenzbild (Abb. 2, untere Zeile), nicht dagegen bei 00- oder 900-Orientierung. Die Maxima des Einfachspalts sind jetzt sozusagen durchzogen von Minima und Maxima des Doppelspalts.

In der Schule wird der Versuch mit den sehr vielen Photonen monochromatischen Laserlichts durchgeführt. Das stellt keinen Einwand gegen den Versuch dar. Mit einzelnen Photonen würde er fast genauso ablaufen. Die Interferenzfigur würde sich dann aus einzelnen statistisch auftretenden Ereignissen aufbauen. Es handelt sich also auch bei Verwendung eines Lasers um einen echten Quantenversuch.

(2) Übliche Deutung: Die Polarisation der durch Spalt A oder B hindurch tretenden Photonen sei eine "Marke", an der sich der Durchtrittsort ablesen lasse. Welcher-Weg-Information (WWI) und Interferenzfähigkeit schließen sich aber gegenseitig aus. Vernichtet man die WWI durch 450-Orientierung des Analysators, so werden die austretenden Photonen wieder interferenzfähig.

(Diese Deutung beruht auf der irrigen Annahme, dass die Photonen beim Durchtritt einen be-stimmten Durchtrittsort haben, den wir nur nicht kennen.)


(3) Korrekte Deutung: Nach Durchtritt durch die Polarisatoren PO des Doppelspalts befindet sich ein Photon in einem Zustand mit un-bestimmter Polarisation. Ebenso un-bestimmt ist der Durchtrittsort (man könnte auch sagen, ein solches Photon hat keine be-stimmte Polarisation und keinen be-stimmten Durchtrittsort: weder durch A noch durch B, auch nicht durch A und B gleichzeitig; all das ist un-bestimmt, nicht jedoch der Durchtritt). Ohne eine Messung der Polarisation kennt man also keineswegs Polarisation und Durchtrittsort. Eine echte WWI liegt nicht vor.

Kann man die Polarisation eines einzelnen Photons überhaupt messen? Der Analysator misst - wie jeder Polarisator - die Polarisation des austretenden Photons. Bei 00- oder 900-Orientierung tritt nur ein Photon mit der zugehörigen Polarisation aus, so als käme das Photon  aus einem bestimmten Spalt: keine Doppelspalt-Interferenz. Bei 450-Orientierung dagegen hat jedes austretende Photon die gleiche be-stimmte Polarisation bzgl. AN, also un-bestimmte bzgl. der Polarisatoren PO am Doppelspalt, ein Durchtrittsort ist un-bestimmt. Es kommt zur Doppelspalt-Interferenz. Aber beachten Sie: Bis zum Eintritt eines Photons in AN ist es bei jeder Orientierung im gleichen (un-bestimmten) Zustand.

Durch die Analysator-Orientierung wird ein Photon mit be-stimmter Polarisation bzgl. AN ausgewählt und auf dem Schirm registriert (das austretende Photon "erhält" die be-stimmte Polarisation). Bei 450-Orientierung wird sogar ein solches ausgewählt, das jetzt un-bestimmte Polarisation PO bzgl. des Durchtrittsorts hat. Was für ein Photon gilt, gilt auch für viele. Das ist die Funktion dieses "Quantenradierers", der den Zustand der austretenden und dann auf den Schirm fallenden Photonen erst be-stimmt macht. Selbstverständlich ist es nicht möglich, durch den Analysator rückwärts in der Vergangenheit zu entscheiden, wie ein Photon durch den Doppelspalt trat: "Verzögerte Entscheidung" darf man nicht wörtlich nehmen. (Manchmal ist sogar irrtümlich von einer Entscheidung zwischen Teilchen und Wellen die Rede.)

(Durch den Analysator kann man - wie mit allen Polarisatoren - ohnehin nur bestimmen, welche Polarisation die austretenden Photonen haben, nicht die Polarisation der in den Analysator eintretenden. Der Leser sollte nicht den Fehler machen, sich den Durchtritt durch den Doppelspalt klassisch wie den Durchtritt von Schrotkugeln vorzustellen, die ja stets einen wohldefinierten Ort haben, oder wie eine Welle, die durch beide Spalte gleichzeitig tritt: "Quanten sind anders". Diesem Fehler liegt die übliche Deutung (2) zugrunde.)

E 1. Hier spielen nicht Eigenschaften (wie etwa ein "Wellencharakter" oder ein "Teilchencharakter") des Photons eine Rolle, die durch die Orientierung des Analysators "umgeschaltet" werden, sondern unterschiedliche, komplementäre Fragestellungen an die Natur, auf die die Natur sinnvoll antwortet.
 
Stets wird eine Frage nach der Interferenz des aus AN austretenden Photons gestellt, das also evtl. so für die Interferenz ausgewählt wird. Es hatte beim Durchtritt durch den Doppelspalt keinen be-stimmten Durchtrittsort (weder durch A noch durch B, auch nicht durch A und B gleichzeitig - alles ist offen).

Mit 450-Orientierung von AN wird ein Photonen ausgewählt mit be-stimmter Polarisation bzgl. AN und zugleich un-bestimmter bzgl. PO. So kommt es zur Doppelspalt-Interferenz. Mit 00- oder 900-Orientierung wird eine Frage nach der Interferenz von Photonen gestellt, deren Polarisation mit einer einheitlichen Polarisation bzgl. PO übereinstimmt - so als seien sie durch genau einen Spalt gekommen. So kommt es nur zur Einfachspalt-Interferenz.

Durch die Orientierung von AN wird nicht entschieden, durch welchen Spalt, A oder B, die Photonen traten, sondern mit welchen Photonen der Interferenzversuch durchgeführt wird. Das ist die Funktion des "Quantenerasers" AN.

2. Der Versuch scheint für die Schule dennoch eindrucksvoll und überzeugend zu bestätigen: Welcher-Weg-Information und Interferenz schließen sich gegenseitig aus, sie sind komplementär. Es handelt sich aber eigentlich nicht um eine echte WWI.

Auch am Einfachspalt kommt es unter geeigneten Bedingungen zur Interferenz, weil zwischen den verschiedenen Durchtrittsorten innerhalb des Spalts nicht entschieden wird.

( Juli 2022)