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SG055 Bezugssysteme

© H. Hübel Würzburg 2013, 2023

Trägheit

Trägheitskräfte

Glossar

Physik für Schülerinnen und Schüler

Impres-sum


(1) Ein Alptraum: Du träumst von einem bedauerlichen Unfall: Dir ist bewusst, dass du mit konstanter Geschwindigkeit (nennen wir sie v) auf einer geradlinigen Straße fährst. Plötzlich taucht ein Hindernis vor dir auf. Eigentlich weißt du ja, dass das Hindernis auf der Straße ruht, dass du dich mit der Geschwindigkeit v auf das Hindernis zu bewegst. Aber im Traum siehst du nur, dass das Hindernis immer näher kommt, ja, dass es sich auf dich zu bewegt. Du bist ganz verunsichert und haderst mit dir im Traum, ob du dich mit der Geschwindigkeit v auf das Hindernis zu bewegst, oder ob das Hindernis wirklich mit der Geschwindigkeit -v auf dich zu rast.  Während du überlegst, kommt das Hindernis näher und näher, immer näher. Du vergisst zu bremsen, stößt auf das Hindernis, und ...  Zum Glück wachst du auf, bedrückt, aber auch erleichtert.

Physikalisch ist der Sachverhalt klar: Es spielen hier zwei Bezugssysteme (BZS) eine Rolle:

Das Bezugssystem A, in dem die Straße, die Bäume am Straßenrand und das Hindernis ruhen. Du bewegst dich im BZS A mit der Geschwindigkeit v auf das Hindernis zu. Das Hindernis ruht im BZS A. Ein Beobachter A im BZS sieht das ruhende Hindernis und dich in schneller Bewegung.

Weiter gibt es das Bezugssystem B, in dem du mit deinem Fahrrad ruhst. Auch für andere Beobachter, die im BZS B ruhen, z.B. ein Freund, der mit gleicher Geschwindigkeit neben dir her radelt, bewegt sich das Hindernis mit entgegengesetzter Geschwindigkeit -v auf dich zu, genauso wie die Straße und die Bäume am Straßenrand. Aus seiner Sicht (B) ruhst du.

So seltsam es auch ist: Alle Beobachter, die im BZS A und die im BZS B, haben Recht, obwohl sie ganz unterschiedliche Aussagen machen!

(2) Stell' dir vor, du stehst auf dem Bahnsteig (C) eines Bahnhofs und ein Zug (nennen wir ihn A) fährt gerade mit einer konstanten Geschwindigkeit v durch. Im Zug A sitzt ein Kind und lässt einen Ball fallen. Das Fenster ist groß genug und die Geschwindigkeit geeignet, so dass auch du den ganzen Fall beobachten kannst.

Aus der Sicht des Kindes in A: Der Ball fällt senkrecht nach unten (und springt dann wieder hoch), so wie das im ruhenden Zug wäre (in Abb. 1: blau).

Aus deiner Sicht (C): Während der Ball fällt, bewegt er sich auch horizontal mit der Geschwindigkeit des Zugs. Der Aufprall erfolgt vielleicht schon in großer Entfernung am Ende des Bahnsteigs. Der Ball scheint aus deiner Sicht eine Parabelkurve zu durchlaufen. Du könntest das sogar filmen. Wir müssen sagen: Der Ball durchläuft aus deiner Sicht tatsächlich eine Parabelkurve (in Abb. 1: rot).


Abb. 1: Freier Fall eines Balls im fahrenden Zug

a) aus der Sicht eines Kinds im Zug A (blau),

b) aus der Sicht eines Beobachters auf dem Bahnsteig C (rot).

Eingezeichnet sind die Positionen nach jeweils 0,1 s.  In dieser Zeit bewegt sich der Zug um jeweils 3 m weiter.


Du (C) orientierst dich an den Gegenständen des Bahnsteigs: Bänke, Getränkeautomaten, Säulen für das Dach, ... Wir sprechen von einem Bezugssystem C (BZS C).  Du beurteilst den Fall aus der Sicht des BZS C und beschreibst den Fall durch eine Parabelkurve, genauso wie jeder andere Beobachter, der in BZS C ruht.

Das Kind im Zug A orientiert sich am Wageninneren. Er befindet sich in einem BZS A. Es beschreibt den Fall als geradlinig vertikal.

Man nennt gleichförmig gegeneinander bewegte Bezugssysteme Inertialsysteme. A und C sind Inertialsysteme.

Ein und derselbe Vorgang kann in unterschiedlichen Bezugssystemen unterschiedlich aussehen.    

Kann man nicht aus dem unterschiedlichen Aussehen des Falls darauf schließen, dass der Zug bewegt ist? Du weißt aber doch, dass das Kind sicher ist, dass es selbst im Zug A ruht, während du dich im Laufe der Zeit mit der umgekehrten Zuggeschwindigkeit -v nach hinten bewegst.

Wenn auch du einen Gegenstand fallen ließest, könnte das Kind auch in seinem BZS A das durch eine (gespiegelte) Parabelkurve beschreiben. Zudem: Auch im BZS C allein könntest du (aus deiner Sicht) eine gleichartige Parabelkurve wie im Zug erzeugen, wenn du einem fallenden Gegenstand eine horizontale Anfangsgeschwindigkeit v (in Fahrtrichtung) erteilen würdest.

Pech gehabt! Vorgänge der Mechanik sehen zwar in unterschiedlichen Inertialsystemen unterschiedlich aus, können unterschiedlich beschreiben werden, aber sie ermöglichen keine Entscheidung, welches BZS bewegt ist. Wir können nur sagen: BZS A ist "im Vergleich zu" BZS C mit der Geschwindigkeit v bewegt, oder gleichwertig, BZS C ist "im Vergleich" zu BZS A mit der Geschwindigkeit -v bewegt.

Zwei Inertialsysteme sind durch mechanische Vorgänge oder Gesetze nicht zu unterscheiden (andernfalls könnte man auf die "absolute" Bewegung eines BZS schließen) (Galilei'sches Relativitätsprinzip).

Deswegen hat es in der Physik streng genommen keinen Sinn, von einem "bewegten Gegenstand" oder einem "ruhenden Gegenstand" zu sprechen. Es hat nur einen Sinn, zu behaupten, dass ein Gegenstand "im Vergleich zu" einem BZS A ruht, während er "im Vergleich zu" einem BZS C in Bewegung ist. Statt "im Vergleich zu" sagt man häufig auch "relativ zu".

Jeder Gegenstand ruht "im Vergleich zu" einem bestimmten Bezugssystem, während er gleichzeitig relativ zu einem anderen Bezugssystemen bewegt ist.    

Einstein hat das Galilei'sche Relativitätsprinzip auf beliebige physikalische Gesetze verallgemeinert, was heute wegen seiner korrekten Folgerungen allgemein anerkannt ist:

Zwei Inertialsysteme lassen sich durch physikalische Vorgänge oder Gesetze nicht unterscheiden (andernfalls könnte man auf das schnellere System schließen) (Einstein'sches Relativitätsprinzip).

Also auch elektrische oder magnetische Vorgänge können in zwei Inertialsystemen unterschiedlich aussehen, ermöglichen aber keine Entscheidung, welches BZS bewegt ist bzw. ruht.


(3) Stell' dir nun vor, du sitzt in einem Zug A, während sich auf dem Nachbargleis ein zweiter Zug B befindet. Wenn du in das Fenster des Nachbarzug schaust, kannst du Blickkontakt mit dem netten Jungen in B aufnehmen.

(a) Das geht eine ganze Weile so; nichts ändert sich. Du merkst gar nicht, dass beide Züge ganz langsam angefahren sind. Auch als dem Jungen in B das Handy entgleitet, siehst du wie es senkrecht nach unten fällt, wie im ruhenden Zug. Wenn du nicht den Bahnsteig und die umliegenden Häuser anschaust, kannst du in diesem Fall nicht entscheiden,  dass sich die Züge mit gleicher Geschwindigkeit bewegen. Sie scheinen "im Vergleich zueinander" zu ruhen. Stellen wir uns vor, das ganze geschehe in einem dunklen Tunnel, dessen Wände nicht sichtbar sind. Keiner von euch, weder du noch der Junge in B, kann feststellen, dass sich die beiden Züge im Vergleich zu den Schienen bewegen.

(b) Doch allmählich bleibt der Junge in B zurück. Fährt sein Zug B jetzt mit (weitgehend) konstanter Geschwindigkeit langsamer als deiner oder fährt dein Zug jetzt mit (weitgehend) konstanter Geschwindigkeit schneller als der andere? Verringert sein Zug B jetzt die Geschwindigkeit oder erhöht sie dein Zug A? Das sind zwei Fragen, die gar nicht so einfach zu entscheiden sind.

Aber es gibt Beschleunigungssensoren, technische und natürliche; du hast sogar welche in deinem Magen. Sie würden ansprechen, besonders, wenn du dich ruckartig, also deutlich beschleunigt, in Bewegung setzen oder abbremsen würdest.

Vielleicht hast du das bei einem Flugzeugstart schon einmal bemerkt. Auch mit geschlossenen Augen spürst du, dass das Flugzeug zunächst beschleunigt wird und dann abhebt.

Ähnliches wäre der Fall, wenn dein Zug A beschleunigen würde. Der Junge im Zug B würde dann keine Beschleunigung spüren.

   Wenn A beschleunigt wird, ist das eindeutig von BZS A aus zu entscheiden. Ein beschleunigtes BZS ist kein Inertialsystem.  

(Ganz entsprechend natürlich, wenn B im Vergleich zu A beschleunigt wird. Dagegen: Eine gleichförmige Bewegung von A im Vergleich zu B ist nicht von einer gleichförmigen Bewegung von B im Vergleich zu A zu unterscheiden.)


(4) In einem beschleunigten BZS wirken Kräfte, die in einem gleichförmig bewegten BZS nicht vorhanden sind, so genannte "Trägheitskräfte". Dein Magen reagiert u.U. sehr empfindlich auf Trägheitskräfte.

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( Oktober 2013; September 2023 ergänzt )