SG058a Kuriose Sonderfälle:
nichtgeschlossene magnetische Feldlinien ? ©
H. Hübel Würzburg 2021
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Impres-sum |
Für Schüler ungeeignet:
Die mathematische Aussage der Maxwell-Gleichung div B = 0 wird aufgefasst als mathematische Beschreibung der Beobachtung "Es gibt keine magnetischen Ladungen". Wenn man eine magnetische Ladung entdecken würde, müsste die Maxwell-Gleichung geändert werden. Üblicherweise wird daraus geschlossen, dass (a) magnetische Feldlinien weder Anfang noch Ende haben, und dass sie (b) ringförmig geschlossen seien. In den Situationen der Schulphysik ist beides immer auch experimentell belegt. Eine Feldlinie ist eine gedachte Linie, deren Tangente in jedem ihrer Punkte die Richtung des Felds anzeigt. Ohne Feld kann es also keine Feldlinie geben.
(b) wird in der Regel als Folge von (a) angesehen.
Ich möchte hier darlegen, dass der Schluss von (a) auf (b)
voreilig ist. In der Hochschul-Mathematik lernt der Student eine
so genannte Peano-Kurve kennen, die er oft nur als eine
mathematische Spitzfindigkeit auffasst. Wenn man, an irgendeinem Punkt
startend, ihr entlang läuft, kommt man niemals zum Ausgangspunkt zurück.
Vielmehr durchläuft man nach und nach alle Punkte des Raums (oder eines
Teilraums), aber niemals einen Punkt, an dem man schon einmal gewesen
ist. Wenn man das im Gedächtnis hat, ist eine weitere - wenn auch
kuriose - Möglichkeit für Feldlinien denkbar.
Seit ca. 100 Jahren wurden solche Überlegungen für eine
magnetische Feldlinie angestellt. Diese Feldlinie hat dann weder Anfang
noch Ende, ist aber nicht geschlossen: schwer vorstellbar, aber wahr.
Wenn man ihr entlang läuft, kommt man nie mehr zum Ausgangspunkt zurück.
Künftige mögliche Fusionsreaktoren,
speziell Tokomaks, nutzen Magnetfelder, um extrem heiße Gase mit
elektrisch geladenen Teilchen von den ringförmigen Gefäßwänden
fernzuhalten. Man fand für sie in
den letzten Jahrzehnten Feldkonfigurationen, bei denen Felder
mit genau solchen Feldlinien ohne Anfang und Ende eine große Rolle
spielen. Sie sind zwar kurios, aber offenbar sogar für
Anwendungssituationen wichtig.
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Abb. 1: Feldlinien ohne Anfang und Ende, aber nicht unbedingt geschlossen: Ein Kreisstrom (IK; purpur) allein umgibt sich mit einem Magnetfeld aus ringförmig geschlossenen Feldlinien (BK; blau), die den Strom jeweils umschließen. Für eine bestimmte Feldstärke bilden sie insgesamt einen Torus (schwarz; unten), der den Strom umschließt. |
Zu Abb. 1: Ergänzt man nun einen geradlinigen Strom längs der Kreisachse (IL; rot), so überlagern sich beide Magnetfelder (blau; BL oben und BK unten) mit dem Ergebnis B. Eine Folge ist, dass jetzt die ringförmigen Feldlinien quasi kontinuierlich weiter um den Torus herum transportiert werden. Sie umgeben dann den Torus auf Spiralen. Theoretische Überlegungen und Rechnungen, die auf den russischen Physiker Tamm zurückgehen, zeigen, dass ein Ausgangspunkt A auf dem Torus nie mehr erreicht wird, dass die Feldlinie also endlos um den Torus herum spiralförmig weiter läuft. Zweitens ergeben die Rechnungen, dass das System chaotisch wird. Zwei benachbarte Punkte auf zunächst benachbarten Feldlinien führen dann nicht - wie bei nichtchaotischen Systemen - zu weiterhin benachbart bleibenden Feldlinien, sondern zu Feldlinien, die sich schnell immer weiter voneinander entfernen.
Die Zeichnung in Abb. 1 ist sehr schematisch und soll das Entstehen der Feldlinie ohne Anfang und Ende plausibel machen. Der mathematisch ermittelte tatsächliche Verlauf der Feldlinien weicht davon ab.
Im Zusammenhang mit der Frage, ob wirklich keine
magnetische Feldlinie einen Anfang und ein Ende hat, wird auch ein Fall
diskutiert, der sich sogar in der Schule mit zwei gegeneinander
gerichteten Stabmagneten oder zwei entsprechend orientierten
Helmholtz-Spulen realisieren lässt. Die magnetischen Feldlinien laufen
in einem bestimmten Bereich aufeinander zu und biegen dann (fast) immer
voreinander ab, um zu ihrem jeweiligen S-Pol zurückzukehren. Vielleicht
haben Sie sich auch schon gefragt: Was geschieht mit den Feldlinien, die
genau auf der Symmetrieachse aufeinander zulaufen? Sie scheinen sich in
einem Punkt zu treffen, einem so genannten singulären Punkt. Bei
umgekehrter Polung laufen die Feldlinien vom singulären Punkt weg. Wenn
man berücksichtigt, wie sich die beiden Felder in der zur Symmetrieachse
senkrechten Symmetrieebene vektoriell überlagern, sieht man in ihr
Bündel von Feldlinien (mit entgegengesetzten Paaren), die vom singulären
Punkt wegstreben bzw. zu ihm hinstreben. Ich nenne alle solchen
Feldlinien singuläre Feldlinien.
Abb. 2: Schematischer Verlauf der
(gedachten) Feldlinien für zwei sich gegenüberstehende Stabmagneten
oder entsprechend orientierte Helmholtz-Spulen im symmetrischen
Fall. In diesem Fall gibt es eine Symmetrieebene senkrecht zur
(horizontal gezeichneten) Symmetrieachse. In ihr gibt es ein ganzes
Bündel von Feldlinien, die vom singulären Punkt wegstreben oder zu
ihm hin. Zwei Feldlinien auf der Symmetrieachse nähern sich zwar dem
singulären Punkt oder entfernen sich von ihm bei anderer
Orientierung, aber sie erreichen ihn nie oder gehen nie von ihm aus.
Das gleiche gilt für alle Paare entgegengesetzter singulärer
Feldlinien in der Symmetrieebene. Am singulären Punkt selbst ist
kein Magnetfeld, also auch keine Feldlinie. Deshalb haben auch
solche Feldlinien weder Ende noch Anfang. |
Es wird behauptet, dass dieser singuläre Punkt entweder der Endpunkt (!) zweier entgegengesetzter Feldlinien sei oder ihr Anfangspunkt (je nachdem, welche Pole sich annähern). Damit glaubt man die Behauptung widerlegen zu können, dass div B = 0 stets das Fehlen von Anfangs- und Endpunkt einer Feldlinie ausschließe.
Was bedeutet div B = 0 in einem Punkt? Um das zu
erklären, wird üblicherweise der Punkt von einer geschlossenen
Oberfläche umschlossen, z.B. einem Würfel, deren Dimensionen gegen 0
streben. Es wird der gesamte magnetischer Fluss durch die Oberfläche
betrachtet, also der Überschuss zwischen eintretendem und der
austretendem Fluss. Wenn dieser Gesamtfluss beim Grenzübergang gegen
eine Konstante strebt, ist er ein Maß für div B. Wenn er
verschwindet, erfüllbar z.B. durch das Gleichgewicht von eintretendem
und austretendem Fluss, oder wenn kein Fluss ein- und austritt, ist div
B = 0.
Abb. 3: Durch die Anzahl der
Feldlinien wird symbolisiert, dass für jeden umschließenden Würfel
(Quadrat) der eintretende magnetische
Fluss genauso groß ist wie der austretende. Daran ändern die in
Richtung singulärem Punkt oder in eine Richtung weg von ihm
laufenden Feldlinien nichts. Das ist die eine Möglichkeit, wie
sich div B = 0 für ein Magnetfeld B erfüllen
lässt. Auf die Nichtexistenz von magnetischen Ladungen als
Quellen oder Senken des magnetischen Felds lässt sich so nicht
schließen. Das ist eine experimentelle Tatsache.
Aber: Gäbe es Quellen oder Senken des magnetischen Felds, also
magnetische Ladungen, könnte ein Überschuss des aus- bzw.
eintretenden magnetischen Flusses existieren, also div B
=/= 0.
Aber ist die manchmal zu lesende Behauptung bzgl. des
singulären Punkts wirklich richtig?
Zwar stimmt es, dass sich die singulären Feldlinien dem singulären Punkt immer weiter annähern und ihm beliebig nahe kommen. Aber sie können ihn nie erreichen, denn am singulären Punkt gibt es kein Magnetfeld (B = 0), also auch keine Feldlinie. Dort von einer Richtung von B oder der Richtung einer Tangente an die Feldlinie zu sprechen, ist nicht gerechtfertigt. Das passt zur Forderung, dass das Magnetfeld auch am singulären Punkt nicht gleichzeitig zwei entgegengesetzte Richtungen haben kann: B soll an jedem Punkt eindeutig sein. Die Situation ähnelt einer Funktion mit einer hebbaren Definitionslücke. Von beiden Seiten strebt hier der Funktionswert zum (ausgelassenen) Grenzwert, erreicht ihn aber nie. Der Grenzwert könnte zum Funktionswert erklärt werden, aber das ist nicht zwingend, auch nicht im Fall einer Feldlinie.
In Abb. 3 tragen auch vom singulären Punkt ausgehende bzw. entsprechend zum singulären Punkt hin eintretende Feldlinien nie zum magnetischen Fluss durch die Oberfläche eines umschließenden Würfels (eines umgebenden Quadrats) bei. Die zugehörigen Feldlinien streben zwar zum singulären Punkt hin, erreichen ihn aber nie bzw. streben von ihm weg, ohne von ihm auszugehen.
Aus
div B = 0 folgt für alle Fälle: Magnetische Feldlinien sind immer ohne Anfang und Ende. Sie sind nicht in allen Fällen ringförmig geschlossen, wohl aber in einfachen symmetrischen Fällen, wie sie etwa in der Schulphysik allein vorkommen. Nichtgeschlossene magnetische Feldlinien spielen bei einigen modernen Anwendungen wie in künftigen Kernfusionsreaktoren zur Energiegewinnung eine wichtige Rolle. |
Diese Überlegungen wurden angestoßen durch einen Einwand
eines aufmerksamen Lesers gegen meine falsche Behauptung, dass
magnetische Feldlinien immer ringförmig geschlossen seien, eine
Behauptung, die in den meisten Schul- und Hochschulbüchern zu finden
ist. Der Leser schickte mir auch Kopien von wissenschaftlichen
Veröffentlichungen dazu. Dafür und für die Diskussionen danke ich ihm
sehr. Meine Überlegungen hier stützen sich überwiegend auf die Arbeit
"L. Zilberti, The Misconception of Closed Magnetic Flux Lines, IEEE Mag.
Lett. 8 (2017)". Ich habe meine Behauptung, auf einfache symmetrische
Situationen einschränkend, wie sie in der Schule ausschließlich
vorkommen, korrigiert. In diesem Text soll der Leser informiert werden,
dass es auch andere Fälle gibt, die in modernen Anwendungen eine große
Rolle spielen.
( November 2021 )